TV Termine Zeitgeschichte

17. August, 8.15 - 8.45 Uhr (30 Min.) SWR
Die Zwanziger Jahre
Tanz auf dem Vulkan
Dokumentarreihe, Deutschland 2005, Folge 2
Im Krisenjahr 1923 ist jedes zweite Kind im Deutschen Reich unterernährt. Insbesondere im französisch besetzen Ruhrgebiet ist das Elend groß. Die Franzosen transportieren Kohle ab, Zechen liegen still, die Bevölkerung kann nicht heizen. Das Ausland hilft, Kinder werden verschickt, um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Die Menschen sind verzweifelt und die Selbstmordraten steigen.

Das Weihnachtsfest 1923 bringt einen kleinen Hoffnungsschimmer: Der Regierung ist es gelungen, die Inflation in den Griff zu bekommen, man spricht vom Wunder von Weimar. Die Rentenmark gibt den Menschen wieder Zuversicht. Das Leid der Anfangszeit, die Folgen des Krieges, die Unruhen, das unübersehbare Chaos scheinen überstanden.

Die Leute atmen auf und wollen endlich wieder leben - Luft schöpfen, nach vorne blicken und sich auch mal wieder amüsieren gehen. Das Zauberwort dieser goldenen Jahre heißt "neu". Lebensfreude und Lebensgier rütteln am Korsett alter Werte, das Kaiserreich wirft buchstäblich seine Kleider ab.

Der Außenminister der Republik wird Namensgeber eines schicken Anzugs, des "Stresemanns", und die Frauen zeigen erstmals Bein, zumindest die untere Hälfte. Damenwaden, kurze Kleider und Bubikopf - die knabenhafte Erscheinung der "Neuen Frau" wird alltäglich und bleibt zugleich umstritten.

Viele der Zeitzeugen erinnern sich an die ungeheure Aufregung, die es gab, wenn Eine den Bubikopf tragen und die langen Zöpfe abschneiden wollte. Eine Symbolhandlung - das veränderte Auftreten junger Frauen im Deutschland der zwanziger Jahre macht den ungeheuren Modernisierungsschub dieser Zeit augenfällig.

Dennoch bleibt die "Neue Frau" vor allem ein Mode- und Medienphänomen. Die abfällig "Tippmamsells" genannten kleinen Angestellten füllen die riesigen Kinopaläste, die Mitte der Zwanziger die kleinen Eckkinos ablösen, und träumen von ihrem gesellschaftlichen Aufstieg - vor Filmen, in denen der Chef die Sekretärin heiratet.

In der Weimarer Zeit sind zwar kaum mehr Frauen berufstätig als vorher, aber sie haben den bisher ihnen zugedachten häuslichen Bereich verlassen und werden nun Sekretärinnen statt Dienstmädchen - ein Beruf, der bis dato als Sekretär Männern vorbehalten war.

In den Zwanzigern entsteht auch die moderne Freizeit. Eine Vielzahl von vorher ungekannten Vergnügungen wird populär. Plötzlich gibt es Revuen, bei denen splitternackte Damen, ganz in Gold, auf die Bühne schweben. Josephine Baker, die schwarze Tänzerin im Bananenröckchen, bringt 1926 "Charleston" und "Black Bottom" - übersetzt "schwarzer Hintern" - nach Deutschland.

Damen und Herren wirbeln die Beine durcheinander - besonders der Charleston findet Anklang. Moralhüter sehen die Hüftbewegungen der neuen amerikanischen Tänze mit Widerwillen. Weniger umstritten ist der Sport: Von 9 Millionen Jugendlichen sind 4,3 Millionen organisiert, die Mehrzahl davon in Sportvereinen.

Fußball und Boxen kommen auf, und für die Frauen - die sich nach wie vor eher grazil zu bewegen haben - wird das Rhönrad erfunden. Freiluftübungen werden vom Drill befreit und als Nacktkörperbewegung mit neuer Natürlichkeit vollführt. Der Mensch der zwanziger Jahre entdeckt die Natur. Am Wochenende geht's ins Grüne - mit oder ohne Faltboot.

An der Oberfläche gleicht die Zeit einer Bühne. Stars von Theater und Kino werden Idole einer Moderne, die vor allem eine Veränderung hin zu einer Massenkultur ist. Wo vordem nur einige wenige an Ausstellungen, Konzerten, Opern- oder Theateraufführungen teilhaben, bringt jetzt das Radio die musikalischen Ereignisse aus aller Welt in die gute Stube.

Das Radio verbreitet sich rasant seit 1923,aber auch Grammophon und Schallplatte demokratisieren die Gesellschaft. Angehörige unterschiedlicher Schichten beginnen, die gleichen Programme zu hören, gleiche Kinofilme zu sehen und gemeinsam die neuen Tänze zu tanzen. An der Oberfläche lebendig, modern, demokratisch, bleiben dennoch tradierte autoritäre Strukturen und Werte tief verwurzelt.

In diesen so genannten "Goldenen Zwanzigern" wird auch der ehemalige Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg 1925 zum Reichskanzler gewählt - eigentlich ein Repräsentant der Monarchie, ein Held des verlorenen Ersten Weltkrieges. 1924 publiziert Adolf Hitler sein Buch "Mein Kampf", das jedoch kaum gelesen wird.

Noch stellt der Nationalsozialismus nicht die Hoffnung der Nation dar. Die Mitte der zwanziger Jahre ist eine politisch relativ stabile Zeit. Außenminister Gustav Stresemann ist der prägende Politiker dieser Epoche. Er erreicht die internationale Rehabilitierung mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund und die innenpolitische Stabilisierung, den Abzug der Alliierten aus dem Ruhrgebiet.

Erst in der Rückschau, mit dem Wissen um die kommende Weltwirtschaftskrise 1929 und die nationalsozialistische Barbarei, wird deutlich, wie sehr die Ausgelassenheit der "Goldenen Zwanziger" ein Tanz auf dem Vulkan war.
Bild
Bild: Zwei Damen in der Mode der Charlestonzeit (Bild: WDR/AKG) – Quelle: DasErste  

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